Donnerstag, 17. September 2009

Ragi-Buch 3 - im Blauen Haus - 1

(Die Einführung zu dieser Geschichte über Ragi und Stefan
steht im Buch 1 unter http://RagiundStefanEins.blogspot.com )
(für alle meine Google-Blogs: http://Mein-Abenteuer-mein-Leben75.blogspot.com )
(dieser Blog "Buch 3" hat die Adresse: http://RagiundStefanDrei.blogspot.com )



Kapitel V: Und nun — Tantra im Blauen Haus

Immer wieder sprechen die beiden von Tantra. Ich müsste mal erforschen, was das ist. Allein dieses Haus, wie es von außen aussieht, ist das schon Tantra? Dies Haus ist so anders als alle Häuser, die ich je gesehen habe.


Ragi´s Mutter weiß nicht recht, wie sie das sagen soll: da habe ich noch nicht dran gedacht, ob auch das Haus ... Ich denke, ich bin so auf Tantra eingestellt, daß alles, was ich gestalte, irgendwie Tantra ist. Ja, vielleicht auch das Haus, weil es so anders als die anderen aussieht, weil es so ganz meine Schöpfung ist. Nach vorne zur Straße ist es ja noch recht normal, — aber sieh es dir mal von hinten an! (Bild 14)

Bild 14: Das Blaue Haus von hinten. Ist das schon Tantra?

Schon innen finde ich: es ist wirklich ganz ANDERS als normale Häuser, die gerade und in rechten Winkeln gebaut sind und mit senkrechten Wänden. Hier ist alles gerundet und — wie ich sagen möchte — „krumm und schief“. Ich habe Mühe, das gut zu finden, denn „so was macht man doch nicht!“, „wie sieht DAS denn aus!“ Und die Wände auf der Rückseite sind nicht einfach blau wie vorne, sondern sie strahlen in vielen starken Farben. Sie sind mit allerlei eigenartigen Zeichen und Bildern bemalt. Die Seitenwände des Hauses sind nach hinten in den Garten hinein verlängert, sie sind wie Arme in den Garten hinein gebogen. Und so bildet sich ein Nest, das Haus umarmt den Garten ein Stück — doch weiter hinten öffnet sich der Garten in eine tiefe Nische, die von immergrünen Bäumen und Büschen umgeben ist. Rechts und links von dieser Nische gehe ich in Pfade zwischen den Bäumen und Büschen und finde kleine Sitzplätze auf Moospolstern und zwei Hütten im Gebüsch — dahinter eine Bauernwiese mit ein paar Schafen, dahinter der Wald.

In der Mitte aber, gleich hinter dem Haus, haben sie die Feuerstelle im Garten, die auch von ein paar kleinen Büschen umgeben ist, doch rundherum ist es hell, nur Rasen. Ein Pflasterplatz ist neben der Feuerstelle, und eine breite Holzliege steht da.

Dieser Rasen — ist das denn ein ordentlich gepflegter und gemähter Rasen? Nein, ab und zu leiht Anuragini sich ein Schaf vom Bauern, und ... Dafür sehen wir bunte Blumen auf dem „Rasen“, eingebettet in kleine Grasbüschel, die das Schaf nicht gefunden hat.

Anuragini sieht mir ins Gesicht, spürt da etwas und meint zögernd: das ist es vielleicht: gerade scheinst du zu denken „so was macht man doch nicht!“, „wie sieht das denn aus!“ — Ja, das ist vielleicht Tantra. Tantra ist nicht mit Absicht anders, doch im Tantra sind wir so frei, anders zu sein, wenn es gefällt. Ja so etwa. Tantra lässt sich nicht binden an alte Regeln, die keine Bedeutung mehr haben, die lassen wir los — auch wenn es mal schmerzt.

— wieso schmerzt? wundere ich mich.

Ja, so etwa: alle mähen den Rasen wie üblich, mit Rasenmäher oder so was. Und du entschließt dich aber, das anders zu machen: da mußt du in deiner Seele erstmal einen Schalter umwerfen, einen anderen Weg gehen, dich auf ein anderes Gleis setzen, und dagegen wehrt sich etwas in dir, etwas sehr Konservatives, etwas die alte bewährte Tradition Bewahrendes und Sicherndes.Und das gibt einen Kampf, und der tut weh.

Das beginne ich mehr und mehr selbst zu merken, schon mein Weg zusammen mit Ragi ist so was. Und sie treibt mich immer wieder in solche Kämpfe hinein — wie sie es wohl an sich erlebt? Anuragini weiter über Tantra:

Tantra besteht nicht aus Regeln, aber es ist eine Lebensweise, die alle Freiheiten enthält, fast keine festen Regeln — da ist aber NUR EINE REGEL: du sollst andere nicht verletzen. Du sollst nicht Menschen oder Tiere oder Pflanzen verletzen, auch nicht in Gedanken oder durch Ideen, ja nicht einmal die Gedanken und Gefühle selbst sollen wir verletzen.

— und wie kann sich dann etwas verändern? Wie können Leute zum Tantra kommen, wenn sie nicht mal verletzt werden? frage ich unsicher. Anuragini wird langsam und sehr deutlich im Reden:

— weil es Menschen gibt, die verletzen DÜRFEN, das sind die großen Tantra-Meisterinnen und -Meister. Sie MÜSSEN dich verletzen, damit du aufschreckst, aufwachst und merkst, wie tief du vorher geschlafen hast ... und NUN das Tantra!

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Und DANN diese „unmöglichen“ Bilder auf der hinteren Hauswand: Bunte gemalte Girlanden schwingen sich wie unregelmäßige Wellen oben unter dem Dachüberstand und unten über dem Rand aus Feldsteinen, der die Hausmauer gegen die Grasfläche abgrenzt. Dann sind da ein paar bunte Karos auf die Wand gemalt. Zwei Bilder von indischen Göttern sind da — wie Ragi sagt ...

—, nämlich die beiden Kinder von Shakti und Shiva: Skanda und Ganapati, oder sie werden auch Murugan und Ganesh genannt. Skanda zeigt mit einem Finger auf das Feld von Karos, und der Elefanten-Gott Ganesh schwingt in der Hand seinen kleinen abgebrochenen Stoßzahn, der tatsächlich nicht aufgemalt ist sondern aus der Wand herausragt, er ist so angebracht, daß er hin und her wackelt, wenn der Wind weht.

Rund um eines der Fenster ist ein Holzgerüst, an dem eine stark orange blühende Pflanze rankt, ihre Blätter sind eigenartig: der Stiel geht mitten durch jedes Blatt durch, die Blätter haben also selbst keinen Stiel. Das Fenster ist offen, und auf dem Fensterbrett sitzt Ragi und läßt ihre schwarzen Beine baumeln — und dieses Bild! ... vor der hier blauen Wand und neben den orange Blüten! —, und unter das linke Knie hat Ragi eine große rosa Schleife gebunden.

Von der Dachspitze, die über dem Garten thront, ragt eine riesige Holzfigur über alles, sie stellt einen Drachen dar: die Zähne fletschen, aber die Lippen lachen. Eine feuerrote gespaltene Zunge hängt nach unten, auf deren einer nach oben gebogener Spitze gerade eine blaue Meise sitzt. An der Hauswand aber geht dieser Drachenkopf in einen langen goldenen Körper und Schwanz über, die aus Holz geschnitzt sind. Seine Flügel schwingen sich rechts und links in die Luft, und die Beine klammern sich am Haus fest. Und nun sehe ich, warum die Meise da saß: sie schlüpft in eines der Nasenlöcher, wo sie wohl ein Nest hat. Aus dem anderen Nasenloch schwärmen Wespen aus und ein, die da ihren Bau haben. Die Schwanzspitze ist geringelt, und in einem der Ringel ziehen Amseln ihre Jungen hoch — so ist alles voller Leben.

Ob das alles nun Tantra genannt werden kann, weiß ich nicht — wie könnte ich auch —, aber es macht Spaß. Es macht sicher auch Spaß, so etwas zu machen. Es sind alles Anuragini´s Ideen, ruft Ragi, und wir Kinder haben mitgemacht, und viele Freundinnen und Freunde. DOCH sagt Anuragini, man könnte das Tantra nennen, denn alles ist so bunt und fröhlich. So wollte ich das haben.

Die beiden Frauen haben viele Bücher und Bilder aus Indien, fast alles hat etwas zu tun mit Tantra, wie Anuragini erklärt: Die Tantra-Inder führen Tantra oft zurück auf den Ur-Gott Ardhanarishvara. Ardhanarishvara WAR, bevor es irgend etwas anderes gab. Sie zeigt auf die Bücher:

Da im Bücherregal steht eine eigenartige Zeichnung von Ardhanarishvara, die uns ein Inder geschenkt hat: du siehst, daß die Gottheit auf der linken Körperseite eine Frau ist, auf der rechten Seite aber ein Mann (Bild 15).

Bild 15: eine indische Zeichnung von Ardhanarishvára

Natürlich: das sind Menschen-Bilder, so hat Ardhanarishvára nicht ausgesehen, Ardhanarishvara sieht überhaupt nicht aus, es sind nur Bilder, die wir Menschen uns machen
.

Ardhanarishvára, oder einfach Ishvara, ist immer und wird ewig sein — egal was sonst ist oder nicht ist. Es wurde Ardhanarishvara aber einsam und langweilig — menschlich gesprochen —, da teilte Ardhanarishvara sich in zwei, die wir Shiva und Shakti nennen. Gott Shiva ist die Mann-Kraft, Göttin Shakti ist die Frau-Kraft. Und so kamen die Gegensätze in die Welt, so ging es los. Ohne Shiva und Shakti kann es nichts Nennenswertes geben, ohne Gegensätze kann es das alles nicht geben. Doch es heißt auch, Gegensätze sind nur ein Spiel, ein Spiel der Götter, das die Inder Liila nennen, oder ein Spiel Ardhanarishvara´s, in Wirklichkeit ist aber alles Eins.

Anuragini zeigt auf die Truhe (Bild 03):

Bild 16 : Shiva und Shakti und ihr Sohn .../Murugan (siehe die Endnote 7)

Das Bild, das da steht, zeigt die beiden, Shiva und Shakti. Vor tausenden von Jahren fragte die Shakti ihren Shiva nach den Regeln der Stille, der Meditation. Shiva sagte 112 Verse hierzu während sie auf seinem Schoß saß, manche sagen auch, es waren 108 Verse. Dann erfüllte auch Shakti ihre Aufgabe und lehrte die Verse weiter an die Menschen — und in der heutigen Zeit war es Lakschmanschu, der sie gesammelt hat, und er gibt sie nun an seine Schüler weiter. (Sie spricht das zweite sch ganz weich aus). Lakschmanschu lebt heute in Kashmir in Indien am Himalaya und ist ein großer Tantra-Lehrer, so habe ich gehört.

Still standen wir im Garten und sahen auf diese Bilder am Haus, Anuragini atmete tief durch, mein Mann erzählte immer, Indien ist ein reines Land, viele Menschen haben so reine Seelen. Andererseits: wie die Männer die Frauen behandeln ist oft schlimm und ist gar nicht rein  (Endnote 20), oder wie sich erst vor ein paar Jahren tausende von Moslems und Hindus gegenseitig umgebracht haben. Anuragini muß ein paar Minuten schweigen, es ist noch die Trauer über das, was vor wenigen Jahren geschah, als Indien und Pakistan sich trennten.

Im Haus zeigt Anuragini auf eine dunkle Holzperlenkette, die an einem Holzpflock hängt, der in die Wand eingelassen ist. Die hat mein Mann getragen, es sind 108 Perlen, sie werden getragen als Zeichen für diese 108 Verse. In Indien bekommt man so eine Kette von jemandem, von dem man sich einführen lässt in die Kunst der Stille, der Meditation ... Guru nennen sie so eine Art Lehrer oder Lehrerin. Shivadas hat uns die Kette mitgebracht (Bild 20). Ein ehemaliger Gefangener aus dem Internierungs-Lager ist nach dem Kriege nach Calcutta gereist und hat sie ihm gegeben, und noch manche andere Sachen meines Mannes. Doch das meiste war schon bei ihm, weil mein Mann früher oft bei ihm gewohnt hat. Die Inder selbst nennen die Stadt Colkata.

Anuragini zeigt auf die Wandkarte: da liegt Colcata.



Bild 17: Mala

Er hat die Hals-Kette, man nennt sie Mala, von seiner Tantra-Meisterin bekommen, als ein Zeichen, daß er sich nun ganz dieser Lehre hingegeben hat. Sie heißt Ma-Lakshmi-Guru und wohnt in einem alten Viertel von Colcata. Wie er sagte, in ganz ärmlichen Verhältnissen, doch ein helles Licht umgibt diese Frau, ihre kleine Hütte, sogar die Gegend, wo die Hütte steht.

Das ist alles so neu und ganz voller Reichtum. Es scheint etwas Heiles zu sein, wenn ich auch die vielen Verbindungen noch nicht sehen kann. Lange muß ich nachdenken — und sage schließlich zaghaft, und so kommt es, daß es Ragi und mich gibt. Weil dieser Gott Ishvara die Shakti und den Shiva geschaffen hat, darum gibt es auch uns, habe ich recht?

Es zieht uns so zu-einander — und drängt uns wieder aus-einander, immer hin und her, oder? Diese weibliche Kraft zieht mich an, und dann wieder wird sie mir zu viel und ich muß wieder allein sein. Nein, kein Kontrastprogramm, nicht unter Jungen will ich sein, sondern ganz allein. Seit ich Ragi kenne, werden Jungen mir immer langweiliger. Mir geht es ebenso, sagt Ragi, wenn ich allein sein will, dann richtig. Kein Mädchen-Klatsch. Dann ist für mich der Abstand von Shiva sehr groß, dann bin ich ganz Shakti, nur Shakti, nur Mädchen.

Ihre Mutter sieht mich lange an, wir sehen einander lange in die Augen, still und ohne Unruhe. Es ist so still jetzt. Dann sagt sie, die Sache mit Shiva und Shakti ist etwas schwierig zu verstehen. Shakti und Shiva treffen sich immer wieder in der Liebe, besonders in der sexuellen Liebe, doch dann noch viel tiefer, ich sage mal: jenseits vom Sexuellen, weit jenseits.

Es erstaunt mich sehr — und macht mich verlegen —, daß sie das Wort Sex so einfach sagen kann. Ändern sich die Zeiten oder sind diese Leute so anders?

Und in dieser Vereinigung der zwei so verschiedenen Körper und Seelen von Mann und Frau verschmilzt die ganze Welt zu Einem und Ardhanarishvara entsteht von Neuem für eine gewisse Zeit, bis Shiva und Shakti wieder auseinander gehen und die Zeit für Ardhanarishvara wieder vorüber ist. Das Gegensätzliche ist auf die Welt zurück gekehrt, es ist wieder Zweiheit entstanden. Doch wieder sehnen sich Shakti und Shiva zu einander, streben dahin, das Gegensätzliche wiederum aufzuheben und zu Einem zu verschmelzen. Das ist die Liebe zwischen zwei Menschen, so haben die alten weisen Inder das erklärt.

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Wenn ich nur wüßte, was Liebe alles bedeutet. Bestimmt viel mehr als wir so meistens sagen. Ich frage, woher kommt denn Liebe?

Das weißt du doch, das meiste haben wir eben ja erarbeitet. Im Leben beginnt es mit der Erotik — das sind die schönen anziehenden Zeichen, die Mann und Frau einander geben, so wie Ragi dir ihren Frau-Körper zeigt, ihre Beine und ihren Körper und ihr flatterndes Kleid zeigt und in ihrer süßen Stimme zu dir singt, und dich neckt, dich mit ihrer Hand berührt, dir in die Augen sieht — und du ihr, in deiner männlichen Art. Über allem ist die Liebe, aber der Sex kommt erst, wenn Liebe und Erotik zusammen wirken und sich Mädchen und Junge ganz stark und tief zueinander ziehen.

Im indischen Tantra gibt es eine Ausdruckweise, „vom Sex zur höchsten Bewußtheit“ — das hat mein Mann oft erwähnt.

Ich verstehe das so: wenn wir erst die Liebe ganz kennen, geht´s weiter: dann kommen neue Dinge. Das wird mir wieder zu viel, ich will für heute nichts mehr darüber hören.

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Biriani, das Hochzeitsgericht vieler indischer Familien: Reis wird gekocht, und getrennt davon das andere. Dieses andere ist heute bei Anuragini eine Mischung von Gemüsen und Gewürzen, nämlich Rosinen, ganze Kardamon-Schoten, Gelbwurzel, Lorbeerblätter und viele andere Dinge, von denen ich nicht einmal die Namen gehört habe (zum Beispiel ein wenig Asafoetida-Pulver, Hing genannt, und fruchtig schmeckenden Tamarinde-Stückchen ), unter den warm-feuchten Reis gelegt, und Anuragini läßt den Reis mit all diesen seltsamen Dingen ein wenig in warmer Backröhre ziehen. Nach zehn Minuten etwa trennt sie die gröberen Gewürz-Teile wieder vom Reis, mischt alles jetzt und legt alles auf eine gewärmte Porzellan-Schale und häuft noch weiteren Reis darüber. Nun schiebt sie das Ganze noch mal für 20 Minuten in die Röhre, damit sich schließlich alles miteinander vermählt und vereint, wie Shakti und Shiva , sagt sie lachend, und was wir nun hier haben, könnten wir auch Ardhanarishvara nennen. Nur schade: es bleibt Ardhanarishvara, und nie wieder werden eine so schöne Frau und ein so schöner Mann erscheinen, nicht mehr aus diesem Biriani. Wie viel göttlicher ist es doch mit uns Menschen!

Die beiden kleineren Söhne von Anuragini sind nicht da, wir drei sind unter uns. Anuragini hat eine Figur aus hellem Metall auf den Tisch gestellt, sie stellt einen sitzenden Elefanten dar, der einen dicken Bauch hat und ganz große Menschenaugen. Ja, auch Menschenarme, und in der linken Hand hält er einen seiner kleinen kindlichen Stoßzähne, der abgebrochen ist — gemütlich und so wie draußen an der Hauswand sieht er aus, lustig (Bilder 14 und 18). Ragi´s Mutter erklärt: Dieses ist nun das eine Kind von Shiva und Shakti: er heißt Ganesh. Viele Leute in Indien mögen Ganesh, er ist der Gott, den die Leute anbeten, wenn sie reich werden wollen. Für Tantra-Leute ist er nicht ein Gott sondern ein Fingerzeig Gottes: „sieh mal, danach sehnst du dich, nach Reichtum — und nach was noch ... ...  und was ist, wenn du reich geworden bist?“

Bild 18: Ganesh, Ganapati


Wir essen mit Fingern von großen Tellern. Anuragini führt mich in diese neuen Sitten ein: In Indien nehmen sie ein viertel Bananenblatt statt Teller, doch leider gibt es hier keine Bananenbäume. — Es ist mir ungewohnt, nur mit Fingern zu essen, doch ich will keinen Löffel. Ich will ein wenig ins Indische eintauchen, will mich ein wenig Shiva nähern. Wie ich das sage, lachen die beiden Frauen. Anuragini kennt sich in allem aus: Doch nicht indem du mit Fingern Biriani ißt! Du BIST Shiva! Seit der Trennung von deiner Shakti, ich meine Ragi damit, BIST du Shiva.

Das ist alles so neu und viel. Hier tauche ich in eine bisher vollständig fremde Kultur ein, und das mitten in Deutschland! Ich muß immer wieder ordnen, so sage ich: Auch wenn ich Shiva-Kraft in mir habe, wie ihr sagt, — fühle ich dennoch auch Weibliches in mir. Wenn es mich zu Ragi hinzieht, dann nicht nur, weil ich ein Junge bin sondern auch, weil ich mich tief in Ragi´s Weiblichem zuhause fühle, beides.

Anuragini sucht nun, was sie dazu sagen möchte: Gewiß hast auch du Shakti-Kraft in dir, doch viel, viel mehr ist Shiva-Kraft in einem Mann — in den meisten jedenfalls. Es gibt auch sehr schöne Männer, die mehr wie eine Frau sind und sehr viel Shaktikraft haben, sie haben viel Frauliches an sich. Ich gestehe, daß ich mit diesen Männern lieber zusammen bin, sie haben viel ur-männliche Kraft, möchte ich mal sagen, sind echter, haben eine besondere Art von Mann-Kraft. Aber sie sind nicht so schrecklich begierig. Als Frau muß ich nicht immer ein schlechtes Gewissen haben, daß ich ihm nicht genug geben kann ..., nicht genug heißt, weil er vielleicht mehr will.

Sie weiß so viel dazu zu sagen: Ja, ich glaube, daß ein Mann nicht nur Shiva in sich hat und eine Frau nur Shakti. Wenn beide sich vereinigen, dann empfinde ich immer wieder, daß sich in dieser Liebes-Vereinigung die Gegensätze in Einem auflösen — eben in Ardhanarishvara, in das Eine ohne Gegensätze, in das Eine ohne irgendetwas anderes, wie von den indischen Gurus so oft gesagt wird.

Sie spricht langsam, mit Pausen, und ich kann besser folgen als wenn sie alles in Einem sagen würde.

... weil durch den Mann die Shiva-Kraft in der Frau ganz stark gemacht wird, und ganz genau so stark wird wie ihre eigene Shakti-Kraft. Und beim Mann ebenso: deine schwache Shakti-Kraft wird durch deine Ragi stark gemacht. Deswegen sehnen sie sich nun nicht mehr zu einander, wenn sie sich vereinigt haben. Dann sind sie schon angekommen, sind beide einfach so da, ohne Sehnen. Zwei Ardhanarishvaras sitzen oder liegen nun da, ja ich glaube, es sind zwei Ardhanarishvaras. So kann ich das wohl mal sagen.

Hoffentlich wird das mal wieder einfacher. Es ist so anders als ich es gewohnt bin. Ich muß es einfach hören und behalten wie es eben geht, kann diese vielen Dinge jetzt nicht alle wirken lassen. Vieles kann ich abends aufschreiben in meine „Tantra-Kladde“. Ich frage besorgt: Tantra ist doch auch eine Religion, oder? Warum gebrauchen die indischen Tantrikas den Sex? benutzen sie ihn?

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Anuragini sieht und zeigt auf ein Bild am Fenster, das aus buntem Transparentpapier ausgeschnitten ist (Bild 19), sagt aber: die Verbindung von Religion und Sex ist vielen Menschen im Westen sehr unverständlich, aber auch vielen Indern, die die Größe des Sex´ zurückweisen, sie denken, er wäre eine Störung bei ihrem Versuch, göttlich zu werden. So denken zum Beispiel viele Krishna-Gläubige — der auf dem Transparent stellt Krishna dar —, bestimmt aber bleibt auch bei denen das Sehnen nach dem anderen Geschlecht bestehen, und das Sehnen nach dem Sex bleibt bestehen, natürlich, und sie quälen sich nur und gewinnen nicht die Leichtigkeit im Leben, die, glaube ich, nötig ist für den Weg zu Gott. In so einer Qual kann doch niemand göttlich werden! — Das Bild 19 da am Fenster zeigt einen Menschen, der eine Querflöte spielt, die Sonne durchstrahlt es — es zeigt Gott Krishna, sagt Anuragini. Das ist eine Glaubensrichtung, die dem Christentum recht ähnlich ist. Nach deren Vorstellung ist Krishna so schön und so göttlich und so männlich und weiblich, alles zusammen, daß alles andere Sehnen aufhört. Krishna wird oft eher wie eine Frau gezeigt.



Bild
19: Krishna tanzt mit seiner Flöte


Da kommt etwas Klarheit bei mir durch: hat in Krishna die Vereinigung schon stattgefunden? Ist Krishna da wie Ardhanarishvara? ... weder Frau noch Mann, sondern beides in Einem? — Das ist eine gute Idee, sagt Anuragini. Und ich erkenne langsam die ersten Zusammenhänge. Dennoch hat Krishna auf Erden eine Frau, die Radha. Hier habe ich eine Seidenmalerei aus Indien, die beide darstellt, sie zeigt es uns auf einem indischen Bild (Bild 20), sagt Anuragini.


Bild 20: Krishna und Radha

Krishna und Christus hören sich ja ähnlich an, sage ich, ob es da Verwandtes gibt? — Ja, das meinte ich eben.

Anuragini sagt weiter: Ich denke, die Tantrikas brauchen den Sex, damit der Mann und die Frau endlich mal — wenn auch nur für ein paar Stunden — frei sind von diesem Sehnen nach der Frau, nach dem Mann. Der Mann und die Frau sind endlich angekommen, sie sind ja nun vereinigt, vollständig vereinigt, da gibt es kein Sehnen mehr — jedenfalls will Tantra das so. Nun können sie endlich mal das Göttliche ganz rein und ohne Störung in sich fühlen. Endlich erfüllt sich das Sehnen nach dem Göttlichen, nichts stört mehr.

Später schickt Ragi mir dieses Transparent (Bild 19), schon reichlich verschlissen, auch fehlt schon ein Teil von Krishna´s Flöte.

Ich sehe zu Ragi, sie sitzt da und hört mit offenem Gesicht, wissend, aber es ist immer noch spannend, auch für sie.

Darum hat der Sex im Tantra eine so hohe Bedeutung, und darum haben die Tantrikas keine Scheu vor den Sex-Kräften: sie wissen, es wird Größeres kommen, sie haben es bereits selbst erfahren, und Sex ist nur die Startrampe, sozusagen; sie sagen: „Sex ist wunderschön. Doch bleibt da nicht stehen, es gibt mehr, es geht weiter!“

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Ja, dieses Sehnen! Das Sehnen nach der Frau ... es kommt in diesen Monaten in mir hoch, ganz kraftvoll, besonders seit ich die Ragi kenne. Ist es ein Sehnen nach der ganz großen Freiheit? — oder das Sehnen, GANZ zu werden — eben mit der Frau sich zu Ardhanarishvara zu vereinigen? Ich kann das nicht so in Worten sagen, merke nur, es ist eine neue Lebensstufe, die da für mich erscheint. Anuragini sagt weiter:

Die echten Tantrikas haben nicht einmal Angst vorm Sex, sie wissen, daß Sex eine der Stufen zum Göttlichen ist. Und sie wollen, daß Sex nicht in Regeln eingesperrt werden darf — außer in eine Regel: verletze niemanden und vergewaltige niemals, wie auch immer, in keiner Weise! Der Sex der Tantrikas führt sie zu Gott, führt uns zu Gott.

Und Ragi fügt noch zu: Und die Tantrikas helfen ihren Kindern, sehr schnell ihre erotischen Gefühle — ihre Freude und Lust am eigenen Körper — als eine göttliche Erfahrung zu erleben, damit sie gar nicht erst abgleiten ins Banale oder Tierische, ins Schreckliche. Damit sie gar nicht erst dahin kommen, die Liebe und das alles als was Schmutziges zu fühlen. So ist es mir auch gegangen, Mutti sagt immer: die GANZE Liebe ist das Heiligste. Deswegen kann ich das Gerede der anderen Kinder nicht mit anhören. Ich muß weggehen.

Ich frage, bis jetzt verstehe ich das so: wenn sie ganz klein sind, fühlen also die Kinder der Tantrikas nur sich selbst, ihren eigenen Körper, und erfreuen sich an ihm, und die Eltern helfen ihnen dabei, das alles zu finden. Doch wie geht es dann weiter, wie kommen sie zu den anderen Menschen? ... wie kommt es dann später, daß sie den Körper der anderen Menschen gerne mögen? Anuragini´s Antwort: Das fällt ihnen leicht, weil sie ihren eigenen Körper kennen und gerne mögen und ihnen der Körper des anderen Menschen nicht mehr fremd ist, vertraut ist, er ist ja nicht viel anders als der eigene. Und auch dabei helfen ihnen die Erwachsenen. — Ich erinnere mich: ja, genauso war die Ragi als wir uns das erste Mal im Stadtpark trafen: es fiel ihr leicht, mit mir unsere Körper zu erleben, so nahe und tief ineinander zu tauchen, möchte ich mal sagen. Und DAS, obwohl wir noch halbe Kinder sind — wie die Leute so sagen.

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Was ich hier schreibe, ereignete sich in Wirklichkeit innerhalb einiger Wochen. Dennoch werde ich müde bei all diesem Neuen — wenn sich auch langsam so etwas wie eine kristallene Klarheit in meinem Kopf ausdehnt. Ich möchte jetzt mal etwas ruhen, ich möchte nur still sein, nichts hören. Was aber diese beiden Frauen vor mir ausbreiten, zieht mich sehr stark an, ich könnte alle anderen Lebensbereiche vergessen und verlassen, nur um hier einzutauchen. Ja, das ist das Sehnen nach dem Göttlichen, ich sehne mich nach Gott! Ist dies hier der Weg? Bin ich nicht noch viel zu jung dazu? Ich frage die beiden.

Ragi ereifert sich: Ich finde nicht, daß du zu jung bist, du bist gerade richtig. Wärst du zu jung, würdest du dich verschließen, dann würdest du nichts wagen mit mir, du könntest nicht bedingungslos ja sagen zu Gott, auch nicht zu mir und meiner Liebe zu dir. Das alles ist doch Gott — so fühle ICH das jedenfalls.

Und Ragi´s Mutter sagt: Dir SCHEINT, daß du zu jung sein könntest. Ich suche nach einer Antwort —: weil, ... weil wir es nicht gewohnt sind, in diesem Leben mit Gott zu leben, scheint es dir, als ob du zu jung wärst. Weil uns nämlich immer gesagt wird, „das verstehst du noch nicht“ — vielleicht sind sie alle unfähig, dir eine Antwort geben, eine Antwort, die dich zu Gott weist. „Vielleicht wirst du es später verstehen“, sagen sie, doch wann nur?

Vielleicht haben sie Angst, daß du Gott im Weib siehst, aber das wäre doch das Schönste! Die christlichen Kirchen wollen das verhindern, vielleicht, weil es für sie Gott nur da oben im Himmel gibt, so weit weg, jedenfalls nicht hier ganz nahe in dir und mir. Und in Indien suchen viele Krishna-Leute Gott in der Geliebten, in dem Geliebten — deswegen solche Bilder — und sie zeigt wieder auf das Bild am Fenster. Doch glaube ich, sie haben Krishna nicht verstanden.

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Schweigend sitzen wir nach dem Essen am Tisch, und ich suche nach noch mehr Ordnung in meinem Kopf. Ich möchte wirklich Ruhe.

Ragi sagt, komm, wir gehen wieder ins Wohnzimmer, setzen uns auf die Bank und sind ganz still — oder wie wär´s mit dem Garten? Nebeneinander setzen wir uns mit untergeschlagenen Beinen auf die Gartenliege neben der Feuerstelle. Ragi sagt noch langsam ein paar Worte,
— sitz´ einfach und beobachte, wie die Gedanken sich durch deinen Kopf bewegen. Laß sie kommen und gehen. Sieh sie dir an. Sie sind einfach da und gehen wieder. Und du bist einfach da. Und ich bin einfach da. Sonst nichts.

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Während die Mutter in der Küche arbeitet, sitzen wir still. Erst denke ich noch, ich sollte Anuragini helfen, doch Ragi drückt mich wieder auf die Bank: jetzt ist es unsere Sache, still hier zu sitzen.

Ohne noch weiteres zu sprechen sitzen wir. Ich werde noch ruhiger, Ragi ist der warme und schützende Mantel für meinen Kopf, wärmt den Kopf, damit er wach und klar bleibt, und schließlich hören die Gedanken auf.

Nach langer Zeit sagt Ragi noch, es ist spät, du kannst hier bei uns bleiben in dieser Nacht. Wir legen uns zusammen in mein Bett, und du bist ganz bei mir — ohne eine Pflicht, ohne daß es etwas zu tun gäbe oder zu lernen gäbe oder gar zu leisten gäbe. Und morgen werden wir einfach krank sein und nicht zur Schule gehen, oder?

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Vor mir liegt kalte Asche, ich sehe die verkohlten Holzteile an, ein paar Ameisen kriechen da herum. Meine Augen sind still bei den schwarz gewordenen Scheiten und bemerken die Tiere, alles sehe ich, doch ich bemerke das nur, kein Denken, kein Vergleichen mit anderen Bildern, die ich mal erlebte. Nur das langsame Umherblicken, nur das ungerührte Beobachten — außer ein paar Gedanken, die dann und wann vorüberziehen wie Wolken, ich lasse sie und beobachte wieder die Asche.

Als wir im Bett liegen, eng aneinander, kommt Anuragini zu uns, naß ist ihr Gesicht vor Tränen. Kinder, sagt sie, ihr habt mich so gerührt, ich muß schon die ganze Zeit weinen vor Freude. Ihr seid so große Menschen. Ich liebe euch so wie ihr seid. Du darfst hier bleiben so lange du willst, Stefan. 

Weißt du wie mein Mann hieß, der in Indien blieb, Ragi´s Vater? Sein Name bei den Indern war Prakash, das heißt in der Hindostani-Sprache so viel wie Stefanos bei den alten Griechen.

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Kapitel VI - Gayatri ... der reine Morgen

Bald bin ich eingeschlafen. Doch bald bin ich wieder aufgewacht. Das Zimmer ist hell vom Vollmondschein. Ragi liegt da und schläft, mir zugewandt. Ich sehe sie an, und nun muß ich sie Stunden lang immer wieder ansehen. Ich kann nicht schlafen, weil ich immer die Ragi ansehe. Es ist so schön, ihr Gesicht ... Ab und zu kommen Gedanken über die vielen Erlebnisse dieses Tages, doch dann wieder ist nur Ragi´s Gesicht vor mir, alles andere ist still. Mein Kopf ist ganz still. Ich höre Ragi´s Atem und spüre meinen eigenen Atem. Ganz leicht berühre ich Ragi´s Gesicht mit einem Finger, es ist so weich. Irgendwann sinke ich tiefer in die Stille und schlafe ein.

Ragi´s Mutter kommt morgens herein und fragt, ob wir mit ihr still sitzen wollen: wollt ihr mit mir in Stille sitzen? In zehn Minuten, sagt sie. Ragi steht schnell auf und wir waschen uns kurz und sitzen dann zusammen im Wohnzimmer. Anuragini hat das Radio angestellt, wo sie einen indischen Kurzwellensender kennt, in dem es Meditations-Musik gibt. In einer schwarzen Metallschale ist etwas Sand und darauf glimmen duftende Blätter über einem Stückchen heißer Holzkohle. Die Sonne scheint durch die Gartenbäume ins Zimmer, wir sitzen getrennt und werden ganz still — diese Musik, dieser Duft, diese Sonnenstrahlen, diese stillen Menschen.

Erst mache ich es noch so, wie Anuragini gesagt hatte: beobachten, wie der Atem an den Nasenflügeln vorbeistreicht. Doch dann werde ich ruhiger und das Beobachten ist auch still geworden, es gibt kein Beobachten mehr. Ich BIN nur noch, nichts sonst.

Nach einiger Zeit klingt ein Glöckchen, Anuragini hat es angeschlagen um diese Stille zu beenden. Wir sehen uns an und sind glücklich, meine Augen sind schon wieder feucht. Anuragini und Ragi gehen in die Küche und machen Tee. Wir sitzen bald zusammen auf der Bank, ganz dicht aneinander gelehnt, trinken Tee und tun nichts weiter, das Mädchen in der Mitte. Plötzlich werfe ich mich flach auf die Bank und schluchze, schluchze ... ich weiß nicht warum, und es schüttelt mich. Mein ganzer Körper schüttelt sich, nach ein paar Minuten stehe ich wieder auf, und wie ich die beiden ansehe, fange ich hemmungslos an zu lachen — so dicht liegen bei dir Weinen und Lachen beieinander — sagte Anuragini und lacht mit.

Im indischen Radio singt eine Frau etwas, das Anuragini hinterher erklärt: sie singt ein Mantra, das ist eine Anzahl von Silben oder Worten. Manchmal haben sie eine wörtliche Bedeutung, manchmal nicht. Die Frau hat das Gayatri Mantra gesungen, das heiligste Mantra der Hindus. Wir singen es oft am frühen Morgen — doch wenn Gäste hier sind, trauen wir uns nicht so recht. (http://www.youtube.com/watch?v=nDnamSM3Z3s)

Anuragini gibt mir nachher den Text, den ich hier mal aufschreibe, in der englischen Lautschrift, doch die Sprache ist die heilige Sprache der Hindus, Sanskrit:

Om
Bhoor Bhuvaha Swaha
Tat Savitur Varenyam
Bhargo Devasya Dhimahi
Dhiyo Yo nah Prachodayath
Om

Ich frage Anuragini, ob es dazu auch eine Übersetzung gibt, doch sie kennt die Bedeutung nur ungefähr: Sanskrit ist eine so andere und schwere Sprache, die Texte kann man nicht einfach so übersetzen. Ich habe hier einen deutschen Versuch, den mein Mann aufgeschrieben hat:


Om
Wir kontemplieren die Höchste Wirklichkeit
— die Erde, der Himmel, die Unendlichkeit.
Hilf uns, daß unser Geist im Glanz der Göttlichen Wahrheit meditiert.
Möge die Wahrheit unsere Gedanken leiten.
Om

Jetzt fehlt nur noch, daß wir alle drei eine dunkelbraune Haut haben und indisch miteinander reden — ich sehe hier fast nichts Deutsches mehr, alles ist so anders. Und was heißt „Om“? frage ich.

„Om“ allein ist schon ein Mantra. Es wird gesagt, daß dieser Laut in dir erscheint, wenn deine Meditation so tief ist, daß die Unendlichkeit, die Ewigkeit in deinem Geist hörbar werden, und das ist „Om“. Das ist wohl die höchste Erklärung. Sonst wird „Om“ benutzt, um die Höchste Wahrheit anzurufen, oder auch um sich in diese Stimmung zu versetzen.

Anuragini holt einen Zettel aus der Sammlung ihres Mannes, dieses ist das Gaytri-Mantra geschrieben in der Schrift, die sie für Sanskrit benutzen:


Bild 21: das Gayatri-Mantra in Sanskrit in der Schrift Devanaagari

Nach einer Weile steht Ragi auf, ruft albern einmal „Omm“ und beginnt wieder zu tanzen — so früh am Morgen schon, ist die denn tanzwütig? Wieder hat sie diese amerikanische Musik aufgelegt, auch ich beginne schon, sie zu lieben. Und wir tanzen ein paar Platten lang bis Anuragini kommt und uns fragt, möchtet ihr, daß ich euch weiter über Indien erzähle?

Ja, bitte, sage ich, gestern wurde es schon zu viel und ich mußte schlafen, aber nun bin ich wieder frisch. Doch weißt du, Anuragini, ich habe kaum geschlafen, es war so Vieles, und ich mußte immer Ragi ansehen, ihr Gesicht ist so schön.

Anuragini lässt Ragi das gemalte Bild aus ihrem Zimmer holen, auf dem eine schöne Frau und ein noch schönerer Mann zusammen unter blühenden Bäumen sitzen, der Mann hat dunkelblaue Haut und ein gelbes Gewand an. Das Bild ist auf ein Seidentuch gemalt. Im Rahmen hängt es sonst an der Wand in Anuragini´s Zimmer. Dieses ist das berühmteste Liebespaar von Indien. Die Frau heißt Radha und der Mann Krishna, von dem ihr gestern abend schon gehört habt. Krishna ist Gott, der zeitweise ein Mensch geworden ist (Avataar nennen sie so ein Wesen), er ist ein König. Radha ist eine einfache junge Hirtenfrau, und beide waren sehr verliebt ineinander. Die Könige damals hatten nur wenige Untertanen, und ein König kannte fast alle seine Leute. (Bild 22)

Bild 22: Krishna und Radha, Seidenbild

Das war wohl vor 4 oder 5 Tausend Jahren, so was ist in Indien unwichtig. Und es ist auch nicht wichtig, ob es wirklich so war oder eine erdichtete Geschichte. Millionen Inder lieben dieses Paar, es ist Vorbild für ihre Liebe zu Gott, diese Liebe nennen sie Bhakti. Doch Krishna wird auch als Kind — dann heißt er Balakrishna — geliebt, oder als König ... oder als Yoga-Lehrer, oder als flötenspielender Jüngling. Da am Fenster hängt das Transparent vom jugendlichen Krishna, wie er die Flöte spielt. Bei öffentlichen Aufführungen wird diese Szene meistens von einer jungen Frau dargestellt, denn in diesem Alter — vielleicht ist er auch gerade siebzehn wie ihr — sieht ein Junge einem Mädchen doch noch sehr ähnlich. In indischer Vorstellung möchten sie, daß der Junge wirklich noch sehr mädchenhaft aussieht, deswegen lässt man dieses Bild von einem Mädchen spielen.

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Ich denke noch an etwas anderes: Du sagtest gestern, „... damit die Frau und der Mann endlich mal — wenn auch nur für ein paar Stunden — frei sind von diesem Sehnen nach dem Mann, nach der Frau. Die Frau und der Mann sind endlich und vollständig vereinigt“. Ich habe aber gehört, daß in der Liebesvereinigung der Höhepunkt nur Sekunden oder höchstens Minuten dauern soll aber nicht Stunden. Wie ist das, was ist es, für ein paar Stunden frei zu sein vom Sehnen?

Anuragini denkt nach, wie sie es erklären kann: Das mit den Sekunden ist unsere westliche Art zu denken, bei den Männern jedenfalls, und die Frauen haben es übernommen, sie glauben, das ist die einzige Wahrheit. Das mit den Sekunden ist die Art der Männer, für die Sex die schnellste Art ist sich fortzupflanzen, oder schnell ihre hoch gespannte Energie auszuschütten, die Spannung los zu werden. Das Wort SEX ist ja selbst schon so schnell, in Indien haben sie ein schöneres und langsameres Wort dafür, KAAMA. Für mich ist unser Sex eher die tierische Art — nein: viele Tiere sind langsamer und gemächlicher als viele Menschen, sie scheinen es mehr zu genießen.

Wieso „hochgespannte Energie“? frage ich nun, — ja, durch das Ganze vorher, die erotischen Reize, die volle Samenblase, das Locken der Frau ist eure Energie in einer hohen Spannung. Du kennst das doch.

Ja, ich habe es erlebt, gerade Ragi hat mich ja so oft in diese hohe Spannung gebracht. Warum hast du mich denn in so hohe Spannung gebracht? frage ich Ragi. Nun ist sie verlegen, reibt wieder an ihrem Kleidsaum und zögernd sagt sie schließlich, bei dir habe ich das Drängen, es so zu tun. Ich muß noch lernen, damit bewußt umzugehen, glaube ich. Das steckt tief in mir, ist wohl meine Art als Frau, oder?

Wieder frage ich Anuragini nach den Stunden und Sekunden. Sie sieht mir in die Augen und erklärt: Zum Einen glaubt ihr Männer, ihr müßtet den Samenerguß, die Ejakulation schnell vollbringen, sonst wäret ihr impotent, und das wäre unmännlich und schmählich und würde die Frau enttäuschen und abschrecken. Zum Anderen denkt ihr, die Frau möchte es tatsächlich so haben — anstatt mal zu fragen, wie möchtest du es? ... wie möchtest du es tatsächlich, tief innen?

Damit tut ihr eurer Frau sehr unrecht. Doch alle tun dieses Unrecht, alle, besonders die, die früher so einen Unsinn einfach gesagt bekommen haben und die sich gegen diesen Unsinn nicht wehren. Vielleicht ist es auch Angst, über die eigenen Unkenntnisse zu sprechen und sich bloßzustellen. Männern und Frauen geschieht das so, sehr viele sind unglücklich — und doch können sie nicht über ihren Schatten der Angst hinüberspringen, und offen darüber sprechen.

Tantra hat aber das Ziel, alle Menschen aufzuklären, damit sie nicht unglücklich sein müssen.
— Anuragini sieht ihre Tochter an und ich sehe, wie offen und selbstverständlich Ragi alles anhört. Ich aber fühle mich sehr verlegen, und ich habe das Gefühl, es schickt sich nicht, so ausführlich über diese Dinge zu sprechen. Es ist mir etwas peinlich — doch nicht so sehr, denn diese beiden Frauen sind so natürlich, daß sie meine Verlegenheit auflösen. Anuragini meint nun:

Als Tantrika sehe ich das so: Die Idee, im Höhepunkt des Sex die göttliche Einheit zu erlangen, ist uns im Westen fremd — einen so hohen Wert geben wir im Westen der Sexualität nicht. Das wäre hier schon eine Gotteslästerung: Sex und Gott, das geht doch nicht! — so fühlt man wohl im Christentum. Aber für die Tantrikas ist es Gotteslästerung, die ganze Liebe — auch den Sex — NICHT als göttliches Spiel zu erkennen ... oder Sex nicht als Gebet zu nehmen. Sex ist zu uns auf Erden gekommen, oder die Schöpferkraft hat uns den Sex mitgegeben und damit das Größte und Heiligste von allem gemeint. Ja, gemeint habe ich gesagt, so sehe ich das.

Also — sagt Tantra — macht bitte das Schönste daraus. Und das ist: laßt die große Erregung so lange währen wie ihr mögt. So lange wie ihr wollt, immer leicht auf und ab ... so lange wie es gut ist. Und dazu gibt Anuragini nun ein paar Anregungen:

Wir Frauen können für lange Stunden immer wieder in die Erregung kommen. Der Mann aber, nachdem er sich erstmal entleert hat, schläft üblicherweise ein, und die Frau ist enttäuscht und muß vor Trauer weinen. Der Mann aber weiß von all dem nichts, denn es gibt auch keine Gespräche darüber zwischen den beiden, sie sind zu scheu dazu. Die meisten Frauen sind zu scheu, das zu sagen, oder es kommt ihnen unrichtig vor. Vielleicht haben sie auch Angst, dann den Mann zu verlieren, daß er weggeht, weil es zu viel für ihn ist — so mag die Frau denken.

Ragi versucht gewiß, dich immer wieder zu mäßigen — damit dein Körper nicht überschäumt, sozusagen, nicht alle Kräfte vergeudet für diese wenigen Sekunden der Samenentleerung — sich selbst muß sie aber auch mäßigen, damit sie dich nicht so hoch reizt. Denn es soll ja nicht so schnell vorbei sein. Wie in dem Rahmen dort an der Wand der alte Vers lautet, den uns Lakshmanjoo aus Indien überliefert hat:

Beim Beginn der Körpervereinigung seid achtsam
auf das Feuer in euch und verharrt darin,
um die Gluthitze zu vermeiden
— genießt eine langanhaltende Freude.

Ragi berichtet, wie wir uns gestern geliebt haben, sie saß auf meinem Schoß. Das macht mich schon wieder verlegen, und wie Ragi das sieht, streicht sie mir über das Gesicht, ganz zart, und meint, es ist doch schön, so ganz offen über alles zu sprechen, jedenfalls mit einer so verständigen Frau wie meiner Mutter. — Für Anuragini ist das die schönste Art der Vereinigung, denn die beiden Körper und Seelen sind sich nun sehr nahe. Und der Körper des Mannes wird nicht so stark zum Ausgießen angeregt, er ist ruhiger. Dann dauert das Zusammensein viel länger — eben Stunden! Diese sitzende Art der Begegnung von Mann und Frau nennen die Inder Upavischta (Endnote 25, Bild 23). Aber es gibt noch viele andere Formen der Begegnungen.

Bild 23: Upavischta, Stefan und Ragi

Tantra sagt nämlich, nehmt eine Stellung ein, die bequem ist, so daß die Vereinigung sehr entspannt sein kann. Und entspannt euch, dann ist die gegenseitige Verinnerlichung um so tiefer. Sex muß nicht immer gewaltig sein, keine Vergewaltigung, kein Gewaltakt — es könnte ein Spiel im Einverständnis der beiden sein.

Begegnet euch entspannt, dann könnt ihr gemeinsam in eine andere Bewußtseinsebene kommen. Ihr könnt die ganze Nacht so liegen und auch so schlafen, die Körper dicht aneinander, die Seelen dicht aneinander, wie in einander eintauchend. Man sagt wohl auch, verschmelzen in den Seelen. Natürlich ist so ein Schlaf nicht sehr tief, doch das ist es ja gerade: irgendwo bleibt euch eine kleine klare Wachheit — für dich und deine Partnerin.

Dann am Ende, gegen Morgen, ist es schön, sich doch noch in „die Gluthitze“ fallen zu lassen, alles los zu lassen und die volle sexuelle Ekstase zu erleben und volle Kraft zu feiern, das kann dann der höchste Lohn sein, die allertiefste Einheit und Verschmelzung. Wenn es irgendwo in dir vorher noch ein Unwohlsein gab, gar eine kleine Krankheit — nun ist alles geheilt. Und voller Dankbarkeit geht ihr dann auseinander und sitzt noch eine Weile still und lasst alles ausklingen. Deine Seele ist ein wenig heiler geworden.

Aha, sage ich, dann kann Sex auch eine Art Medizin sein, wenn es mir schlecht geht? Eine Behandlung wie bei einer Krankengymnastin? Anuragini ist fast entsetzt: Nein, bestimmt nicht — sie zögert eine Weile, — na ja doch, ich kann mir denken, daß es helfen kann. Habe allerdings nie davon gehört.

Ruhig sitzen wir. Meine Seele ist gerührt wie so oft in diesen Wochen. Im Garten höre ich Vögel singen. Und auch ein Kind singt auf der Straße, dann eine Frau. Es ist ganz weich und klar in mir. Diese Tantra-Welt, sage ich mal, ist ja das Höchste, hier fühle ich mich zuhause — doch es wird noch weiter gehen.

Bis Anuragini schließlich sagt: nur so eine sehr fantastische Idee: in einer tantrischen Gesellschaft könnte ja in den Krankenhäusern auch emotionales und spirituelles Pflegepersonal sein, auch solche, die die Patienten mit erotischer und sexueller Liebe verwöhnen und einen Teil heilen (Endnote 27). Das ist doch logisch? Aber in heutiger Zeit kann man das wohl nicht ausführen.

Von Anuragini hören wir noch eine kritische Bemerkung: Allerdings ist Sex für viele Leute eine Gelegenheit, andere auszubeuten. Ich meine, sie nutzen Sex als Gelegenheit, ihre angestaute Energie raus zu werfen, oder um ihre Sex-Fantasien an anderen zu erleben. Die wollen das aber vielleicht gar nicht. Das ist doch eine sehr barbarische und häßliche Art.

Was heißt eigentlich „andere Bewußtseinsebene“? will ich schon seit ein paar Minuten fragen.

Schön, daß du das alles nachfragst. — Als ganz kleines Kind sind wir ja ziemlich unbewußt. Doch je weiter du wächst, im Geist meine ich, desto mehr siehst du bewußt in die Welt, nimmst du die Welt wahr, zuerst die Mutter und so weiter. Und dann auch dich selbst, erst deinen Körper, und dann immer weiter. Also, das ist das "Bewußt-Sein".

Dann wirst du immer wacher im Verlaufe des Lebens und bist dir deiner immer mehr bewußt, das ist die Bewußt-heit, die Wachheit für dich selbst. Das nenne ich mal Ebenen, immer neue Ebenen tauchen auf, wenn du älter wirst, immer neue Bewußtheits-Ebenen. Und je weiter du bewußt wirst, desto klarer wird dir, daß du nicht dieser Körper bist, mit diesem Namen und so weiter. Du hast das alles, bist es aber nicht.

Ich wundere mich, wo das hinführt, hat das mal ein Ende, wenn wir ganz erwachsen sind? Anuragini weiß das nicht, bei ihr geht es jedenfalls immer weiter. Ragi fragt, Mutti, und wie bewußt bist du nun — so alt wie du schon bist?

Das kann ich nicht erklären, weiß ich nicht so einfach zu sagen. Vielleicht bin ich in einer ihrer Ebenen, wo es keine Worte gibt. Ich denke: „unverständlich!“, — aber na ja, ich lasse es mal so und frage, wieso müssen wir das alles von den Indern lernen, gibt es solche Lehren nicht auch bei uns? Anuragini weiß nicht recht, was es dazu zu sagen gibt, sie meint, ich jedenfalls habe in Deutschland nie davon gehört. Nicht nur in indischen Ländern gibt es diese Traditionen, auch in China und anderswo im Osten. Vielleicht gab es das bei uns mal, doch die Überlieferung wurde unterbrochen und ist verschwunden. Sie betont, nun habe ich meine nächsten Quellen in Indien, und so ist es gut für mich.

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Nach zwei Wochen noch eine solche Nacht. Es ist Sommer. Schon eine Stunde vor Sonnenaufgang sitzen wir hinter dem Blauen Haus auf der Veranda, über uns der große Drache, der den Giebel schmückt, davor Ragi und ich auf einer Liege, lange dunkelblaue Hemden um die Körper gelegt. Diese Nächte sind so warm, und Decken liegen hier nur zur Vorsicht. Und die Nächte sind so klar.

Upavischta, das möchte ich jetzt mit dir erleben, bei Sonnenaufgang, sagt Ragi und klettert sorgfältig auf meinen Schoß. Wieder schlingt sie ihre Beine um meine Hüften. Ich helfe ihr mit meinen Händen, ihr Becken dicht an meines zu schieben. Unsere Unterleiber sind bald tief vereinigt, stark aber ohne Bewegungen, denn wir werden ruhiger, der Atem geht ruhiger. Stell dir vor, wie ein Licht von deinem Unterkörper in meinen strahlt, dunkelrot und etwas orange. Und stell dir vor, wie so ein Strahl in starkem Orange von meinem Unterbauch in deinen strahlt.

Langsam nähern sich die Vorderflächen unserer Körper wieder einmal, berühren sich von unten bis schließlich oben an den Stirnen. Meine linke Hand liegt liebevoll auf ihrem Kreuz, meine rechte in ihrem Nacken, ihre Hände schlingen sich um meinen Hals. Hellgrün ist es an unseren Kehlen, lila an den Stirnen, und schließlich blau auf den Köpfen — helleres Blau als unsere Hemden sind, fast silbernes Blau. Wie die Sonne aufgeht, ist mir, als ob ein fast weißer, ein ganz heller blauer Strahl von meinem Scheitel in den Himmel hoch schießt, leicht und leise — und aus Ragis Kopf ebenso. Und unten ruht mein Körper auf der rot-braunen Erde. Eine große Stille in meinem Körper, in mir. Obwohl einige Vögel singen, ist es innen ganz ruhig.

Wir geben einander Stille, wir geben einander Wärme, wir geben uns Frieden und Liebe.

Erst eine Stunde später kommt Ragi´s Mutter und bringt uns Tee, aus dem Haus hören wir die Musik des Gayatri-Mantra. Anuragini sitzt auf einem Stuhl und betrachtet die Sonne und die bunten Wolkenstreifen im Osten.


Nun weiter im Buch 4 - http://RagiundStefanVier.blogspot.com